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Der Pferdekopf auf meinem Unterarm

Aktualisiert: 4. Juni

Ohne eine klare Vorstellung von einem Motiv besuche ich den Tätowierer Pascal Blaser in seinem Studio. Ein Tätowierer, der selbst kein Tattoo auf seiner Haut trägt, ist bereits eine interessante Geschichte für sich. Doch auch die Art und der Charme seines Studios sind besonders. In einem kreativen Prozess entwerfen Pascal Blaser und ich gemeinsam verschiedene Motive und entwickeln Ideen, bis wir das für mich perfekte Design finden. Der nächste Schritt ist absehbar – das Motiv soll nun mit Tinte unter die Haut. Überraschenderweise verläuft das Stechen nahezu schmerzfrei. Eine Reportage, die unter die Haut geht.

Pascal Blaser beim stechen der frisch designten Pferdekopfs.
Pascal Blaser beim stechen der frisch designten Pferdekopfs.

Marius Gisler


Nach 7 Stunden liege ich also auf dem Tattootisch im Studio Menagerie. Der bevorstehende Schmerz macht mich ein wenig nervös. Ich beobachte, wie Pascal Blaser langsam die Nadel meiner Haut nähert. Ich spüre den ersten Stich, stelle jedoch fest: So schlimm ist das gar nicht. Überraschung – ein fast schon angenehmes Kratzen über den Unterarm. Noch gestern zerbrach ich mir den Kopf darüber, was für ein Motiv ich mir stechen lassen soll. Das Zwyerhaus – die Kulturstätte, zu der ich starken Bezug habe? Einen Vogel – ein mysteriöses und doch verspieltes Wesen? Oder doch etwas grafisches wie der vitruvianische Mensch? Gemeinsam kreierten Pascal Blaser und ich in einem mehrstündigen Gespräch ein Motiv, bis es mir perfekt gefiel. Jetzt kann ich beobachten, wie mir Pascal Blaser das gemeinsam Erarbeitete Stück für Stück auf dem Unterarm verewigt. Zurück in der Zeit.


Kreativer Ort voller Inspiration


Es ist ein warmer Dienstagmorgen im November, als mir Pascal Blaser die Tür zu seiner kreativen Wohn- und Wirkstätte in Altdorf, in welcher auch sein Tattoostudio Menagerie zu finden ist, öffnet. Hier, im 2. Stock eines 500-jährigen Patrizierhauses, hat Pascal Blaser einen Ort geschaffen, welcher aussergewöhnliche Interior-Designelemente vereint. Neben Tierpräparaten (alle mit zertifiziertem Herkunftsnachweis) und abstrakten Skulpturen und Bildern findet sich eine Unzahl an Skizzen bereits gestochener und geplanter Tattoodesigns – alleine an der Wand der Toilette hängen Hunderte. Die Kreativität des Gastgebers und Künstlers kann man in jedem Detail spüren. Doch das heutige Ziel ist das Stechen eines Tattoos: Und damit ab in Pascal Blasers Studio.


Zahlreiche Ideen warten an der Toilettenwand auf einen Kunden.
Zahlreiche Ideen warten an der Toilettenwand auf einen Kunden.

Ideenschmiede Menagerie


Am Pult im Studio angekommen, fragt mich der Künstler: «Was gefällt dir denn?» Eine simple und doch keine einfache Frage. Ein konkretes Design habe ich nämlich nicht im Kopf, und besonders kreativ bin ich auch nicht. Mir gefallen aber Symbole wie der vitruvianische Mensch, Raben und das Zwyerhaus. Das ist offenbar ausreichend, um Pascal Blasers kreative Denkmaschinerie zu aktivieren. Mit fokussiertem Blick und beeindruckender Geschwindigkeit erstellt er in Photoshop erste Entwürfe und Möglichkeiten eines Designs meiner losen Ideen. Aufbauend auf diesen Skizzen entwickelt sich das Design rasch weiter. Ein beacht­licher Workflow – häufig bringt Pascal Blaser seine Anpassungen schneller auf das digitale Zeichenboard, als er seine Idee mit Worten formulieren kann. «Mit der Zeit wird man einfach schneller», sagt Pascal Blaser und lacht. «Es gibt kaum Ideen, an die ich mich nicht heranwage. Durch meine Erfahrung weiss ich aber auch, dass manche Designs, so toll sie auf dem Papier aussehen, als Tattoo nicht funktionieren oder nicht schön altern. Das wäre sehr schade», findet der Tattookünstler.


Deshalb ist es ihm wichtig, seine Kunden professionell zu beraten, anstatt einfach nur das umzusetzen, womit seine Kunden durch die Tür kommen – «vor allem, wenn ich sicher weiss, dass es besser und persönlicher ginge», so der Künstler.

Kaum ausgesprochen – schon verbildlicht. Pascal Blaser bei der Arbeit.
Kaum ausgesprochen – schon verbildlicht. Pascal Blaser bei der Arbeit.

Weg zum tattoolosen Tattookünstler


Doch wie holt man sich Erfahrung im Tätowieren? Kreativ war Pascal Blaser schon immer, und auch das Zeichnen und die ruhige Hand waren schon seit jungen Jahren seine Stärken. Sein Weg war aber kein direkter. Angefangen mit einer Lehre als Tiefbauzeichner, konnte er im Beruf seine Kreativität nicht ausleben. «Es brauchte Mut, sich einzugestehen, dass das nicht mein Weg ist.» Er wechselte seinen Beruf und wurde Innendekorateur.

Vor etwa zehn Jahren begann dann seine Reise in die Welt des Tätowierens. Bereits damals entwarf er häufig Motive für einen befreundeten Tätowierer: «Mein Freund war der Meinung, dass ich besser zeichnen könne als viele seiner Berufskollegen und legte mir nahe, mich selbst im Tätowieren zu versuchen.» Es sollte jedoch noch Zeit vergehen, bis Pascal Blaser schliesslich zur Nadel griff. Zunächst erlernte er die grundlegenden Techniken des Tätowierens, im nächsten Schritt übernahm er das Nachstechen kleinerer Tattoos, dann tätowierte er kleinere Motive im Freundeskreis – mit der Zeit und diesen Erfahrungen wuchsen auch stetig Pascal Blasers Sicherheit und Fertigkeiten.


Eines ist in all der Zeit aber geblieben: Pascal Blaser hat selbst kein einziges Tattoo. Ein Tätowierer ohne eigenes Tattoo? So sehr ihm die Körperkunst Tattoo auch gefällt, für sich selbst habe er nie das eine, passende Motiv gefunden.


Weg zur Selbstständigkeit


Den Weg in die Selbstständigkeit wagte Pascal Blaser vor rund fünf Jahren. Zunächst teilzeit, aber aufgrund der grossen Resonanz und der guten Feedbacks seiner Kunden waren seine Terminanfragebücher schnell und ohne grossen Werbeaufwand derart gefüllt, dass er sich vollständig für das Tätowieren entschied. Seinen Erfolg erklärt er sich damit, dass er es einfach anders mache als die gängigen Tattoostudios. Bei diesen funktioniere es oft so: Man geht vorbei, liefert sein Motiv ab, und nach einem halben Jahr wird dieses Motiv dann eins zu eins unter die Haut gestochen. Pascal Blaser betrachtet es philosophisch: «Der Weg ist das Ziel. Der Prozess, der zu etwas Ewigem wie einem Tattoo führt, ist von grundlegender Bedeutung.» Das perfekte Tattoo ergebe sich, so Pascal Blaser, aus der Persönlichkeit des Trägers oder der Trägerin, der Ästhetik derer Körper – darunter versteht sich beispielsweise die Beschaffenheit der Haut und auch die jeweilige Körperstelle – sowie deren Motivation für ein Tattoo. «Um diese Aspekte in Einklang zu bringen, ist es mir wichtig, meine Kunden kennenzulernen, mir diese individuelle Zeit zu nehmen, um gemeinsam diesen kreativen Prozess zu durchlaufen.»


Rabenmensch mit Pferdemaske


Zurück im Studio – die Möglichkeiten sind grenzenlos. Lange Gespräche über Interessen und Geschichten formen das Motiv. Das Zwyerhaus, schwebend in der Luft wie im Film «Oben», nur gehalten von Ballons – oder besser: von Pferdeköpfen wie jenem, der an der Wand des Zwyerhauses hängt. Was wäre, wenn der Pferdekopf nicht nur im Vordergrund steht, sondern sogar lebendig ist? Oder wenn etwas in ihm lebt – ein Rabe vielleicht? Ein Rabe, der das Gesicht des Pferdes als Maske trägt. Noch skurriler: Was wäre, wenn der Rabe eine menschliche Hand hätte, die die Maske abnimmt?


Das alles ist nur schwer vorstellbar, aber zum Glück kann Pascal Blaser diese Ideen in kürzester Zeit skizzieren und visualisieren. Im kreativen Prozess wechselt der Stift vom Zeichentablett direkt auf meine Haut und verschafft dabei Klarheit über die richtige Position und Grösse des Tattoos. Letzte Feinheiten werden angepasst, dann erstellt Pascal Blaser die finale Schablone, das sogenannte Stencil. Wie ein Abziehtattoo platziert der Künstler das Stencil auf meinem Unterarm. Das Stechen kann beginnen, also ab auf den Tattootisch.


Weil es nur schwer vorstellbar ist: Unten rechts der Rabe mit der Pferdemaske.
Weil es nur schwer vorstellbar ist: Unten rechts der Rabe mit der Pferdemaske.


Unter die Haut


Nach gut 7 Stunden liege ich also auf dem Tattootisch – zugegeben, ein wenig nervös. Doch die Nervosität verfliegt schnell. Pascal Blaser richtet seinen Arbeitsplatz ein und erklärt dabei alles Wissenswerte über seine Produkte und Arbeitsgeräte. Dabei setze er auf beste Qualität bei seinen Verbrauchsmaterialien wie Nadeln oder Tinte und die neuste Technik bei seinen Handteilen. Alles kabellos – für mehr Hygiene und eine freie Handführung.


Der erste Stich überrascht, aus Erzählungen und Filmen erwarte ich starke Schmerzen, diese bleiben jedoch aus. Leichte Anzeichen zeigen sich zwar, die sind aber eher mit dem zu starken Kratzen eines Mückenstichs oder dem Liegen auf einer Akupunkturmatte zu vergleichen. «Schmerz ist komplett individuell, aber generell sind Stellen, welche nahe an Gelenken und Knochen liegen, empfindlicher, da hier die Hautschichten dünner sind», erklärt Pascal Blaser, während er ruhig und konzentriert die Rahmenlinien sticht. «Der Brustkorb ist die Königsdisziplin.»


Ich kämpfe derweil sogar schon fast gegen das Einschlafen. «Es passiert tatsächlich nicht selten, dass meine Kunden während des Tätowierens einschlafen», sagt Pascal Blaser und lacht. Und schon bald haben wir es geschafft.


Der Himmel über Altdorf ist schon dunkel gefärbt, als ich mich überglücklich mit meinem neuen Wegbegleiter auf den Heimweg mache. Nun thront der Pferdekopf des Zwyerhauses nicht mehr nur an dessen Hausfront, sondern auch auf meinem Unterarm und wird mich an einen besonderen Tag im Studio Menagerie erinnern. Der Pferdekopf ist bei seinem ersten «Ausritt» zu seinem Schutz noch unter Klarsichtfolie verborgen.

Mehr Infos unter menagerie.ch.


Der Pferdekopf am Zwyerhaus ist nun auf meinem Arm verewigt.

 
 
 

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